Die Engländer

Eine Einführung in die britischen Gepflogenheiten

Die Engländer

Jeder Mensch ist Ausländer – zumindest jenseits seiner Landes­grenzen. Eine Binsenweisheit, gewiss. Aber es ist gut, sich ihrer öfters zu erinnern. Als »non-UK passport holder« bewegen Sie sich in England als Gast, und das erfordert, sich bestimmten Gepflogenheiten anzupassen.

Der Autor Antony Miall witzelte, dass für viele Engländer das Ausland bereits auf der anderen Seite der Straße beginne. Tatsache ist, dass so gut wie jeder Engländer Vorfahren hat, die selbst allesamt Landesfremde waren, etwa Römer oder Normannen, Angeln, Jüten oder Sachsen – die keltischen Ureinwohner hat man nach Irland und Wales abge­drängt. Die Stammbäume selbst nobelster Familien reichen »nur« bis zu Wilhelm dem Eroberer (William the Conqueror) zurück, der mit seiner Streitmacht im Jahre 1066 an den Küsten der Insel landete. Und Prince Charles – ist er ein Engländer? Mit dieser Frage bringen Sie britische Patrioten in Verlegenheit. In den Adern Seiner Königlichen Hoheit wie in denen seiner Eltern fließt überwiegend deutsches Blut. Die Windsors stammen nämlich aus der Linie Sachsen-Coburg-Gotha, und der Ehemann der Queen heißt mit bürgerlichem Namen Battenberg, woraus man Mount­batten gemacht hat.

Die Engländer sind nicht kühl!

Sind Sie nach anfänglichem small talk over the fence erst einmal in den engeren Kreis der Nachbarsfamilie aufgenommen worden, bleibt es nicht bei der nächsten Tasse Tee.

Der Hausherr präsentiert Ihnen seine erst kürzlich bei Sotheby’s ersteigerte elektrische Eisenbahn von 1936, und als ob man sich seit ewigen Zeiten kennen würde, verrät man Ihnen die Geheimnisse des Fliegenfischens, die Vorteile des Barfußgehens im Garten und die Freuden des Rosenzüchtens, wohl auch das Ersatzteilproblem bei Großvaters altem Morris 1100, den Kummer mit dem nicht funktionierenden Toaster und der Schwiegertochter Nelly, die viel lieber Schokolade und Bonbons bei Marks & Spencer als Fischbrötchen bei MacSoundso ver­kaufen würde.

Wer den Engländern Kühle, Distanziertheit oder Steifheit nachsagt, hat sie nur am Zollschalter, nicht aber zu Hause, im Pub oder bei der jährlichen Ruderregatta in Henley-on-Thames kennen gelernt! Allerdings gelten die Bewohner Südenglands als reservierter im Vergleich zu ihren Landsleuten in den nördlicheren Regionen.

Oh, it’s so nice!

Achten Sie einmal darauf, was in England alles mit dem Prädikat nice (nett) versehen wird. Das neblige Wetter, die magersüchtige Nachbarstochter, der langweilige Job, Ihr klappern­der Gebrauchtwagen, die Kathedrale von Winchester, das künst­liche Feuer im Kamin, das jämmerliche Klaviergeklimper des unbe­gabten Enkelsohnes, das huldvolle Lächeln der Queen, die mit­reißende Seifenoper im Fernsehen, die todlangweilige Geburts­tagsparty – alles lässt sich als nice bezeichnen, wenn die Höflich­keit eine Meinungsäußerung gebietet. Und immer werden Sie hören: nice to meet you. (nett, Sie kennenzulernen). Das ist auch wirklich so gemeint.

Wenn von »den Engländern« die Rede ist, so stellt das natürlich in mehrfacher Hinsicht eine Pauschalierung dar. Jeder Engländer sieht sich vollkommen anders als sein Nachbar, Kollege oder Weggefährte und möchte nicht mit jedem Tom und Harry über denselben Kamm geschoren werden. »The British type is produced by the climate,« hat George Bernhard Shaw einmal gesagt, womit der in Irland geborene Dichter zum Ausdruck bringen wollte, dass der Charakter seine Landsleute der Wechsel­haftigkeit des britischen Wetters entspräche. Aber es gibt sie dennoch, »die Engländer«, und da jeder von ihnen, so darf man unterstellen, ein good sports zu sein bemüht ist, dürfen wir auch weiterhin mit einigen Verallgemeinerungen operieren, die ja auch " the krauts" (die Deutschen) hinnehmen müssen.

Die Karikatur des aggressiven, hochfahrenden Bauerntyps »John Bull« mit weißen Breeches, Stulpenstiefeln und Zylinderhut wurde vor anderthalb Jahrhunderten geboren, aber einen solchen Eng­länder hat es eigentlich nie gegeben. Eher schon den Seefahrer Captain Bligh oder Gestalten, wie sie Charles Dickens, T. S. Eliot, Rudyard Kipling oder Edward Allan Poe beschrieben. Solche Figuren verkörpern »den« Engländer, wie man ihm vor allem außerhalb seines Landes begegnet.

Was wirklich wichtig ist...

»Schief ist englisch,« heiß es früher einmal, was sich ursprünglich zwar auf die »schräge« Tanzmusik Jack Hyltons bezog, aber die Redensart mutierte bei uns zu einem geflügelten Wort, mit welchem man irgendwelche Unzuläng­lich­keiten zu bezeichnen pflegte. Vieles in England ist nach unserem Verständnis unzulänglich, sei es die Installation mancher Wasserleitung oder die Sicherung von Straßenbaustellen. Für den Engländer ist das cultural heritage (kulturelle Erbe) wirklich wichtiger als zu wenig Druck auf dem Wasserhahn oder ein Streik in den Ford-Werken (wenn man nicht gerade in Dagenham lebt). Stonehenge, Shakespeare und die Mayflower Saga genießen höhere Stellenwerte als alle nicht gesicherten Schlaglöcher auf der A422 zwischen Banbury und Brackley zusammen! Das bestätigt Ihnen jeder Taxifahrer, selbst wenn er den „Sommernachtstraum“ oder Stonhenge noch nie gesehen hat.

Vom Makel, Ausländer zu sein

Verzichten Sie auf ein Heraus­kehren des überkorrekten Preußen, auf herablassende Belehr­ungen (»das müsste man denen mal beibringen!«) oder auf die Durchsetzung vermeintlich unwiderlegbarer Standpunkte. Auch in England schafft man sich keine Freunde durch Rechthaberei.

Die Deutschen genießen ohnehin den Ruf, alles besser zu wissen und andere zu ihrem »Ordnungssinn« bekehren zu wollen. Abends gibt es immer wieder mal TV-Filme, vor drei, vier Jahrzehnten gedreht und die Zeit von 1935 bis 1945 reflektierend: Ein wenig von dem, was in jenen Streifen die Rollen der tumben Teutschen bis zur Karikatur kennzeichnet, glauben einige Briten in den Germans noch immer zu erkennen: Sie organisieren alles perfekt, gehorchen dem Vorgesetzten aufs Wort (»Jawoll, mein Führer!«) – und fallen auf die einfachsten Tricks der schlauen Engländer herein. Die Franzosen zeigen solche TV-Filme ebenfalls gern...

Indessen, bei der jüngeren Generation haben schiefe Bilder längst Korrekturen erfahren. Ihr Weltbild hat neue Konturen bekommen und ist ein anderes als das ihrer Eltern und Großeltern, denn junge Briten reisen heute sehr viel häufiger ins Ausland als früher und bilden sich ihr eigenes Urteil über das, was sie sehen und erfahren.

Allerdings ist ein Phänomen zu registrieren, das nicht in unsere aufgeklärte Zeit passt: Unter den Zehn- bis Sechzehnjährigen hat sich in den letzten Jahren eine zunehmende Ausländerfeindlichkeit ausgebreitet. Sie richtet sich vor allem gegen Farbige, seltener auch gegen Franzosen, Spanier und Deutsche. In Videospielen und Comicheften finden derlei Trends gute Nahrung, und viele Boulevardblätter (tabloids genannt) scheuen sich nicht, ausländer­feindliche Themen auf primitive Weise aufzugreifen und zu stänkern. Den Fremden eins auf den Hut zu geben, wo immer sich die Gelegenheit dazu bietet, sehen sie als patriotische Pflicht. Die Tatsache, dass ideologische Gräben, die es in der Vergangenheit zur Genüge gab, längst zugeschüttet sind, ist einigen Zeitge­nossen eben immer noch nicht ganz bewusst geworden. Neue Feindbilder kommen genügend hinzu, nicht nur aus dem Irak.

Der erwachsene Engländer diskutiert über Wirtschaft und Politik ebenso gern wie über Fußball, schnelle Autos und über das Wetter. In seiner Meinungsäußerung pflegt er dabei gern gewisse Unter- oder Übertreibungen. Die Antwort »well, not too bad...« (nun, gar nicht so schlecht) auf die Frage nach dem Wohlbefinden kann sehr wohl bedeuten: Mir geht’s ziemlich schlecht, es ist gerade noch auszuhalten. In solchen Fällen liegt die Betonung – genau hinhören! – auf dem Wörtchen too. Und ein »could be worse...« (könnte schlimmer sein) signalisiert: Es ist wirklich arg schlimm – das Wetter oder das Befinden.

Schein-Vertraulichkeit

Es überrascht den Nichtbriten schon bei seinem ersten Kontakt mit Engländern, mit dem Vornamen angesprochen zu werden. Selbst der Boss eines großen Unter­nehmens wird sich Ihnen mit »my name is George« vorstellen. Lassen Sie sich von dem vertraulichen Klang auch in geschäft­licher Post (»..,John, William, Frank und David sind von Deiner Teilnahme am Meeting informiert, Melanie erwartet Dich im Hotel....«) aber nicht täuschen: Die Engländer sind harte Ver­handler, nicht immer gute Zuhörer, aber stets disziplinierte Gesellschafter.

Der Usus, einander beim Vornamen zu nennen, signalisiert im Business nicht (gleich) freundschaftliche Verhält­nisse, sondern Pragmatismus, Offenheit und Unvoreingenommen­heit. Er ist nur eine Schein-Vertraulichkeit. So, wie die Gentlemen bei Tisch – sei es bei einem Meeting oder zum Lunch das Jackett ablegen und herausgegebenes Wechselgeld nicht nachzählen. Womit wir wieder beim Thema Vertrauen wären.

Das britische Zeitungswesen

Es gibt kaum einen Engländer, der nicht mit Leidenschaft die Zeitung liest, auch im Zeitalter der Internet-News. Wobei der Begriff newspapers (oder nur papers) sich auf alles erstrecken kann, was auf weißem, grauem oder rosafarbenem Papier gedruckt und verbreitet wird.

Ungleich populärer als anders­wo auf der Welt sind in England die sogenannten tabloids, im Vergleich zur »Financial Times« oder zum »Daily Telegraph« meist kleinformatige, aber immer reißerisch aufgemachte Boulevard­blätter. Ihre Welt ist die der Skandale, der wirklichen und der erfundenen, und obwohl niemand zugeben mag, diese Drucker­zeugnisse mit den übergroßen Lettern auf der Titelseite ernst­zunehmen, bewegen sich ihre Druckauflagen in astronomischen Höhen. Die als Mittel zum Zweck der Auflagensteigerung ebenfalls praktizierte, bereits erwähnte Engstirnigkeit, Voreingenommenheit und Häme in bezug auf die Pflege nachbarstaatlicher Beziehungen ist eine eigenartig unbritische Verhaltensweise der Regenbogen­presse, die sich damit an sehr junge, also noch wenig lebenser­fahrene Leser wendet – aber auch an verhältnismäßig alte, deren Weltbild sich seit 1940 nicht geändert hat.

Pauschal vorgetragenen Antipathien gegen alles Deutsche werden Sie bei vernünftigen Leuten kaum noch begegnen. Kommt gelegentlich das Gespräch auf die Schrecknisse des Zweiten Weltkrieges, wird man sich natürlich über die deutschen Luftangriffe auf London oder Coventry unterhalten, wohl auch über die Home Guard und den D-Day – wie der Engländer eben über alle militärischen Konflikte der letzen 300 Jahre (sofern sein Land darin verwickelt war) gern und ausgiebig zu debattieren liebt. Es braucht nur jemand Reizworte wie Waterloo, Trafalgar, El Alamein, Agadir, Damaskus oder Bagdad in die Gesprächsrunde zu streuen.

Mit Leidenschaft – und keineswegs nur auf den »dritten Seiten« der Boulevardpresse – diskutiert man in England Themen, die heutzutage den Nerv jedes Einzelnen treffen, etwa das Vordringen ausländischer Großunternehmen in bislang rein britische Domänen. Als die Japaner ihren Fuß erstmals in die Tür zur britischen Wirtschaft stellten, der US-Gigant Ford den Auto­hersteller Jaguar übernahm, BMW – um beim Thema zu bleiben – Rolls-Royce sowie Mini und der Volkswagen-Konzern Bentley schluckte, waren dies jedes Mal Vorgänge von weltan­schaulicher Dimension. »Ich weiß gar nicht, warum in diesem Lande so viel über den Verkauf von Rover und Mini geklagt wurde,« sagte ein britischer Wirtschaftsjournalist auf einer Pressekonferenz. »Hätten die Engländer vor fünf, sechs Jahren mehr Patriotismus bewiesen und vorzugsweise be uns produzierte Autos anstatt von Volks­wagen, Honda, Peugeot oder Fiat gekauft, wäre es ja gar nicht soweit gekommen...«

Dieser Artikel ist ein Auszug aus Leben und Arbeiten in England.

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